Identität & Selbstführung

Wie du zu deiner Identität zurückfindest – wenn du dich im System verrannt hast

von Thomas Krings

Viele Unternehmer verlieren nicht sich selbst – sie verlieren die Anbindung an sich, weil sie sich immer tiefer in ein System hineinbewegen, das mehr fordert, als sie innerlich tragen können.

Wenn du lange genug ein Unternehmen führst, passiert etwas Merkwürdiges: Du wirst gleichzeitig stärker und verletzlicher. Stärker im Außen, weil du Systeme stabilisieren kannst. Verletzlicher im Innen, weil du dafür oft deine eigenen Bedürfnisse ausblendest. Und irgendwann tritt ein Zustand ein, den fast jeder erfahrene Unternehmer kennt – du funktionierst, aber du bist nicht mehr angebunden.

Es ist kein lauter Umbruch, kein sichtbares Drama. Es ist eine schleichende Verschiebung: Entscheidungen fühlen sich schwerer an, Gespräche laufen mechanischer, Verantwortung lastet anders. Du machst weiter, weil du musst – aber innerlich verlierst du den Kontakt zu dem Punkt, von dem aus du früher geführt hast.

Genau darüber sprechen wir hier. Und falls du tiefer in den gesamten Grundpfeiler eintauchen willst, findest du ihn hier: Identität & Selbstführung – Der innere Kompass für Unternehmer .

Identität verschwindet nicht – sie wird überlagert

Viele Unternehmer glauben in dieser Phase, sie „hätten sich verloren“. Das klingt dramatisch und ist gleichzeitig falsch. Niemand verliert sich. Identität ist nichts, das sich verflüchtigt. Sie wird überlagert – durch Rollen, Erwartungen, Anforderungen und Loyalitäten, die sich im Laufe der Jahre ansammeln wie Schichten über einem eigentlich klaren Kern.

Das Harvard Business Review beschreibt dieses Phänomen im Beitrag „Discovering Your Authentic Leadership“ . Dort wird klar: Führungskräfte verlieren nicht ihre Identität – sie verlieren den Zugang zu ihr, weil das Außen lauter wird als das Innen. Je mehr Rollen sie erfüllen, desto mehr verschiebt sich die Balance zwischen Sein und Funktionieren.

Und genau das ist die eigentliche Gefahr. Nicht, dass du dich veränderst. Sondern, dass du dich überdeckst. Stück für Stück, Entscheidung für Entscheidung, Erwartung für Erwartung. Bis der innere Kompass leiser wird – und das System die Richtung vorgibt.

Identität ist also nicht weg. Sie liegt nur unter Schichten, die du irgendwann nicht mehr bewusst gewählt hast.

Wie du dich im System verrannt hast – und warum du es nicht bemerkt hast

Das Verrennen beginnt selten in Krisen. Es beginnt in Stabilität. In Momenten, in denen du funktionierst, weil jemand funktionieren muss. In Phasen, in denen das System dich braucht – und du gibst, weil es nun mal deine Rolle ist.

Und während du die Verantwortung trägst, verschiebt sich unmerklich die Balance: Das System wird wichtiger als der Mensch, der es führt. Die Struktur wichtiger als die Identität. Die Erwartungen wichtiger als dein Motiv.

McKinsey analysiert dieses Muster im Artikel „Addressing employee burnout: Are you solving the right problem?“ . Dort wird deutlich: Überforderung entsteht nicht durch mangelnde Belastbarkeit. Sie entsteht, wenn Strukturen so viel Energie ziehen, dass selbst erfahrene Führungskräfte den Kontakt zu ihrem inneren Gleichgewicht verlieren.

Das Entscheidende ist: Du merkst es nicht, solange du gebraucht wirst. Systeme entlasten sich, indem sie sich auf den Stärksten stützen. Und der Stärkste bist oft du.

Erst wenn du beginnst, nach innen zu spüren, kommt die Erkenntnis: Du bist nicht zu schwach geworden. Du hast zu lange gehalten.

Der Weg zurück beginnt nicht bei deinen Rollen – sondern bei deinen Motiven

Ein großer Fehler vieler Unternehmer besteht darin zu glauben, sie müssten ihre Rollen sortieren, um wieder klar zu werden. Rollen sind jedoch instabil. Sie gehören dem System, nicht dir. Sie sind abhängig von Markt, Organisation, Familie und Zeit.

Identität entsteht nicht aus Rollen. Identität entsteht aus Motiven. Aus dem, was dich ursprünglich antreibt, bevor du Verantwortung übernommen hast.

Genau das beschreibt McKinsey im Artikel „Leading with inner agility“ . Dort geht es nicht darum, Rollen zu perfektionieren, sondern die Fähigkeit zu stärken, aus einem inneren, stabilen Motiv heraus zu handeln.

Wenn du wieder zu deiner Identität willst, musst du deine Motive freilegen. Nicht die Rollen, die du erfüllst. Nicht die Erwartungen, die auf dir liegen. Sondern das, was bleibt, wenn du alles andere abziehst.

Bei fast allen Unternehmern, mit denen ich arbeite, tauchen die gleichen inneren Motive wieder auf: Gestaltung. Freiheit. Wirkung. Verantwortung. Tiefe. Stabilität. Sie verschwinden nie – sie geraten nur aus dem Blickfeld.

Motive sind der eigentliche Ursprung von Identität. Und wenn sie wieder klar werden, verändert sich automatisch auch die Art, wie du führst.

Erwartungen sind das größte Hindernis – und die größte Chance

Wenn ein Unternehmer sich im System verrannt hat, liegt die Ursache fast nie in falschen Entscheidungen. Sie liegt in Erwartungen. Oft in Erwartungen, die dir nie gehört haben – aber die du übernommen hast, weil du jemand bist, der nicht wegschaut.

Erwartungen sind heimtückisch. Sie wirken leise, aber nachhaltig. Sie schreiben Rollen vor, formen Entscheidungen und führen dazu, dass du weiter tust, was du früher aus Überzeugung gemacht hast – jetzt aber nur noch aus Verpflichtung.

Die Rückkehr zu deiner Identität beginnt genau hier: Wenn du Erwartungen erkennst, die nicht deine sind. Wenn du innerlich sagst: „Ich erfülle nicht mehr, was mich überlagert.“

In dem Moment hörst du auf zu reagieren – und beginnst wieder zu gestalten.

Ein Praxisfall:

Ich habe vor einiger Zeit mit einem Unternehmer gearbeitet, der nach außen alles hatte: ein wachsendes Unternehmen, wirtschaftliche Stabilität, Anerkennung im Markt. Nach innen war er leer. Nicht depressiv, nicht überfordert – leer.

Er sagte einen entscheidenden Satz: „Ich weiß nicht mehr, ob meine Entscheidungen aus mir kommen – oder aus der Erwartung heraus, wer ich sein soll.“

Wir haben keine Rollen optimiert. Wir haben seine Motive erarbeitet. Seine Erwartungen sortiert. Und die systemischen Dynamiken sichtbar gemacht, die ihn in ein funktionierendes, aber nicht mehr stimmiges Verhalten gedrängt hatten.

Genau das ist Identität: Sie bleibt. Du musst nur die Schichten erkennen, die dich von ihr trennen.

Woran du erkennst, dass du wieder zu dir zurückfindest

Der Weg zurück ist kein dramatischer Prozess. Er ist eine stille Wiederannäherung an deine Wahrheit. Du merkst ihn daran, dass Entscheidungen wieder stimmiger werden – nicht leichter, aber klarer. Gespräche wieder echter werden – nicht perfekter, aber ehrlicher. Konflikte weniger bedrohlich wirken, weil du nicht mehr gegen dich selbst arbeitest.

Du kommst zu dir zurück, wenn du spürst, dass das, was du tust, wieder aus dir kommt – und nicht aus den Erwartungen anderer.

Wenn du dich im System verrannt hast, ist Identität der Weg zurück

Systeme werden komplexer. Rollen enger. Erwartungen lauter. Aber Identität bleibt der einzige stabile Punkt, an dem du dich orientieren kannst – und den du nicht verlieren kannst. Du kannst ihn nur eine Zeit lang überdecken.

Wenn du wieder kraftvoll führen willst, musst du zuerst wieder kraftvoll mit dir verbunden sein. Nicht als Rolle. Nicht als Funktion. Sondern als Identität.

Wenn du merkst, dass es Zeit wird, wieder klar zu führen – lass uns sprechen.