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Ich wollte meine Frau nicht enttäuschen

von Thomas Krings

Ich wollte meine Frau nicht enttäuschen.

Er saß vor mir. Maßgeschneiderter Anzug, leerer Blick.
Ein Vorstandsvorsitzender – offiziell auf dem Gipfel.
In Wahrheit: am Rand des Zusammenbruchs.

„Ich wollte meine Frau nicht enttäuschen“, sagte er.
Und in diesem Satz lag alles.
Karriere, Druck, Liebe, Schuld.
Ein ganzes Leben, eingewickelt in gesellschaftliche Verpackung.

Die stille Erpressung des Stolzes

Seine Frau war stolz auf ihn.
Nicht auf den Menschen, sondern auf die Rolle, die er spielte.
Vorstandsvorsitzender. Verantwortungsträger. Erfolgsmann.
Im Golfclub war das die Währung. Im Tennisclub das Gesprächsthema.
Er gab ihr Status. Sie gab ihm Anerkennung.
Ein fairer Tausch – bis er selbst daran zerbrach.

Was als Liebe begann, wurde zur stillen Erpressung des Stolzes.
Er konnte nicht aussteigen, weil sie sonst etwas verloren hätte,
was ihm nie wirklich gehörte: das Bild des erfolgreichen Mannes.

Das alte Spiel: Liebe gegen Leistung

Wir leben in einem System, in dem Liebe oft an Leistung gekoppelt ist.
Nicht absichtlich, nicht böse – sondern systemisch.
Erfolg wird verwechselt mit Wert.
Anerkennung mit Liebe.
Und Stolz mit Nähe.

Er arbeitete nicht mehr, um zu führen oder zu gestalten.
Er arbeitete, um geliebt zu bleiben.
Jede Präsentation, jede Entscheidung, jede schlaflose Nacht –
ein Gebet, das sagte:
„Bitte, verliere nicht den Stolz auf mich.“

Er war nicht abhängig von Macht.
Er war abhängig von Bedeutung.
Und das ist die subtilste Form von Gefangenschaft.

Das System der gegenseitigen Erwartungen

Es gibt Paare, die sind wie zwei Zahnräder im alten Wirtschaftssystem.
Beide funktionieren perfekt – solange sie sich drehen.
Er der Performer.
Sie die Repräsentantin des Erfolgs.
Gemeinsam: ein starkes Paar mit perfektem Image.

Doch das System dahinter ist fragil.
Denn sobald einer innehält, knirscht es.
Stillstand wird als Gefahr erlebt.
Nicht, weil Liebe fehlt – sondern weil das System Selbsterhalt braucht.

Er sagte:
„Ich konnte nicht einfach gehen. Ich hätte sie zerstört.“
Und ich fragte:
„Oder dich selbst gerettet?“

Burnout als Liebesbeweis

Viele Männer in Führungspositionen rennen nicht, weil sie müssen,
sondern weil sie nicht enttäuschen wollen.
Sie tragen Verantwortung für Unternehmen –
und gleichzeitig für das seelische Gleichgewicht ihres Umfelds.
Ein Spagat zwischen Pflichtgefühl und emotionaler Abhängigkeit.

Burnout ist dann kein Erschöpfungssymptom.
Es ist ein Liebesbeweis.

Ein letzter Versuch, dem eigenen Selbstwert noch Bedeutung zu geben,
wenn alles andere schon leer ist.

Die Analyse „Guilt-Ridden People Make Great Leaders“ aus der Harvard Business Review zeigt,
wie stark Schuldgefühle und das Bedürfnis, Erwartungen zu erfüllen,
Führungskräfte belasten und in eine permanente Überforderung treiben.
Nicht die Aufgaben überfordern uns,
sondern die Identität, die wir glauben, erfüllen zu müssen.

Was bleibt, wenn die Rolle fällt?

Er sagte, er habe immer gedacht, er tue es für sie.
Doch am Ende tat er es, um nicht derjenige zu sein,
der ihre Bewunderung verliert.

Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.

Und als sein Körper streikte,
war das kein Versagen –
es war eine Wahrheit, die sich Gehör verschaffte.
Eine Wahrheit, die sagte:
„Ich bin müde vom Spielen.“

Das Tragische:
Seine Frau hätte ihn vielleicht gar nicht verlassen.
Aber das Bild, das sie gemeinsam gebaut hatten –
das hätte es.
Und genau das machte es so schwer.

Business 2.0: Vom Stolz zur Freiheit

Das alte Spiel funktioniert so:
Ich leiste – also werde ich geliebt.
Das neue Spiel beginnt, wenn du erkennst:
Ich bin – und deshalb bin ich liebenswert.

Klingt einfach. Ist es nicht.
Weil du zuerst alles verlieren musst,
was dich bisher definiert hat.
Titel. Status. Zustimmung.
Manchmal sogar den Applaus deiner Liebsten.

Doch genau dort beginnt echte Freiheit.
Wenn du nicht mehr die Liebe anderer sichern musst,
um dich selbst zu spüren.

Die Studie „Leadership and Team Identification: Exploring the Followers’ Perspective“ der Universität St. Gallen zeigt,
wie eng die Identität von Führungskräften mit ihrem Umfeld verknüpft ist –
und wie sich echte Souveränität erst dann entwickelt,
wenn Führung nicht mehr aus Pflicht,
sondern aus innerer Klarheit entsteht.
Das ist kein Rückzug.
Das ist ein Systemwechsel.

Der Moment der Wahrheit

Ich fragte ihn:
„Wenn du nicht Vorstand wärst – wer wärst du dann?“
Er schwieg.
Lange.
Dann sagte er leise:
„Vielleicht wieder ich selbst.“

Das war der Beginn.
Nicht seines Burnouts, sondern seiner Rückkehr.
Er kündigte Monate später –
nicht im Affekt, sondern in Klarheit.
Heute führt er kein Unternehmen mehr.
Aber er führt wieder sich selbst.

Seine Frau?
Sie hat geweint. Geschwiegen. Und langsam verstanden.
Dass Liebe nicht daran hängt, was man im Golfclub erzählen kann.
Sondern daran, was man sich gegenseitig ehrlich sagen kann.

Fazit: Der Preis der Bewunderung

„Ich wollte meine Frau nicht enttäuschen“ –
das klingt nach Liebe, ist aber oft Angst.
Angst, das eigene Bild in den Augen des anderen zu verlieren.
Doch wahre Nähe entsteht nicht durch Stolz,
sondern durch Wahrheit.

Manchmal ist der mutigste Liebesbeweis,
nicht mehr zu funktionieren.
Sondern einfach zu sagen:
„Ich kann so nicht mehr.“

Denn erst, wenn du dich traust, zu enttäuschen,
kannst du beginnen, echt zu lieben.
Dich. Und den anderen.